Von Jörg Stadelbauer – Wissenschaftliche Zusammenarbeit deutscher Geographen mit afghanischen Kollegen hat eine jahrzehntelange Tradition. Auch unter den schwierigen Bedingungen der zurückliegenden Jahre konnte sie erfolgreich fortgesetzt werden. Jüngste Frucht und zugleich ein Höhepunkt einer langfristigen Kooperation ist der jetzt von Andreas Dittmann (Gießen) herausgegebene Nationalatlas Afghanistans. Er präsentiert sich nicht als eine bloße Aneinanderreihung thematischer Karten, sondern jede Karte wird zusätzlich durch einen Text beschrieben und erläutert. Dadurch entsteht ein länderkundliches Kompendium, das neben sachlichen Inhalten auch Forschungstraditionen und Forschungsstand, sicher aber auch Daten- und Forschungslücken aufzeigt. Beteiligte an diesem Großprojekt waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Kabul, des afghanischen Amtes für Geodäsie und Kartographie und der Universität Gießen.
Der Aufbau des Werks folgt bewährten Konzepten: Auf die räumliche Einordnung des Landes und einen topographischen Überblick folgt eine Serie von Karten zum Naturraum. Geologische Verhältnisse, Böden, klimatische Gegebenheiten, Hydrographie, Vegetation und Bodenbedeckung werden vorgestellt, ehe Karten zu den natürlichen Landschaften und zu den Ökoregionen eine Synthese anstreben. Verbreitungskarten für 83 Tierarten sind sicher eine Besonderheit in einem Nationalatlas. Für diese Präsentation des Naturraums lagen den Bearbeitern ausführliche Studien und auch Karten vor, die für die kartographische Umsetzung gesichtet, vereinheitlicht und systematisiert werden mussten. Problematischer war vermutlich die Erstellung von Karten zur sozioökonomischen Situation des Landes, die etwa zwei Drittel des Bandes einnehmen, denn hier ist nach der Verfügbarkeit und Verlässlichkeit des verwendeten Datenmaterials zu fragen. Dieses Dilemma unvollständiger Daten wird bei der Darstellung von Export und Import explizit angesprochen: Neben dem offiziell registrierten Außenhandel existiert ein beträchtlicher informeller Handel, der als Phänomen bekannt, in den Dimensionen aber schwer abschätzbar ist. Daten zur Landwirtschaft, insbesondere die Verbreitung von Bewässerungs- und Regenfeldbau lassen sich teilweise durch die Auswertung von Satellitenbildern generieren, auf Provinzen bezogene Angaben zu einzelnen landwirtschaftlichen Kulturen erfordern dagegen genaue statistische Erfassung. Zwar arbeitet das statistische Amt Afghanistans mit modernen GIS-Methoden, doch dürfte das Hauptproblem bei der Erfassung regionaler Primärdaten liegen. Welche kartographischen Herausforderungen zu meistern waren, zeigen die Karten zur Bevölkerung: Die beiden Karten zur Bevölkerungsdichte 2011 nach Verwaltungseinheiten und die Karte zur Bevölkerungsdichte nach Siedlungsgebieten vermitteln drei unterschiedliche Bilder, wobei der direkte Vergleich durch unterschiedliche Klassenbildungen allerdings erschwert wird. Die jedem Begleittext beigefügten Literaturangaben lassen erkennen, dass die jeweiligen Bearbeiter keine Mühe scheuten, auch entlegene Daten aufzuspüren und bewusst eine lange Forschungstradition zu berücksichtigen. Dennoch gibt es Grenzen bei der Darstellung einzelner Themen: So werden bei den Karten zu Medien, Bildung und Gesundheitswesen zwar Zahlenwerte zugrunde gelegt (z.B. Krankenhäuser, Ärzte, Schulen usw.), aber qualitative Aussagen müssen unterbleiben. Eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Exaktheit der Daten bleibt, doch ist anzuerkennen, dass der Atlas auch für diesen Aspekt des Staatsaufbaus Fortschritte aufzeigt: Gesundheits- und Bildungswesen haben – bei aller Dominanz der Hauptstadt Kabul – eine räumliche Verteilung, die der Bevölkerungsverteilung entspricht; die Karte der Spezialisten im Gesundheitswesen vermittelt aber einen Eindruck auch von der qualitativen Ungleichverteilung im Land. Zudem dokumentieren die Karten die lange Vernachlässigung von Frauen im Bildungswesen. Den letzten Block bilden, in den zugehörigen Texten ergänzt durch historische Karten – Übersichten zu den sechs größten Städten des Landes. Zusätzlich zur Verwendung und Standardisierung verfügbarer Pläne waren hier auch Geländebegehungen erforderlich.
Vergleicht man das Werk mit anderen Nationalatlanten, so werden sicher Lücken deutlich, die jedoch nicht dem Herausgeber und den Bearbeitern anzulasten sind: Angaben zur Industrie fehlen, sieht man von bergbaulich genutzten Lagerstätten der Primärenergieträger ab. Das traditionelle Handwerk erscheint nur in den Bazarstrukturen der größeren Städte, nicht als Grundlage für Beschäftigung und Wertschöpfung. Die Geschichte wird völlig ausgeblendet. Einige kleinere Mängel seien nur kursorisch genannt; sie fallen nicht ins Gewicht, sollten aber bei einer Neuauflage beachtet werden: Neben ein paar unwesentlichen Druckfehlern verdienen ältere Fotos eine Bildbearbeitung. Dass bei den sozioökonomischen Karten auf die Angabe eines Bezugsjahrs verzichtet wurde, ist wohl der Unsicherheit der Datenlage geschuldet. Die Zitierweise einiger Literaturangaben ließe sich noch vereinheitlichen. Viel wichtiger ist jedoch, dass das Werk durch ein ansprechendes Layout und eine kartographische Gestaltung besticht, die die Vorteile der Computerkartographie nutzt. Hier hat der Atlas sicher Vorbildcharakter.
Der besondere Wert des Werkes liegt jedoch nicht nur in der Bestandsaufnahme und der Dokumentation eines Status quo, sondern ist auch auf ganz anderen Ebenen zu sehen: Für das Ausland ist der Atlas ein Beispiel engagierter wissenschaftlicher Zusammenarbeit, das die Potentiale des afghanischen Bildungs- und Wissenschaftssystem widerspiegelt. Zugleich bildet der Atlas den Ansatz für eine moderne Landeskunde, die Kenntnismängel überwindet und dabei versucht, nicht mit vertieften Detailstudien in einem kleinen Landesteil, sondern flächendeckend, aber räumlich differenzierend für ganz Afghanistan Aussagen zur Raumstruktur zu machen – nicht aktualistisch, sondern mit dem Blick für längerfristige Strukturen. Für Afghanistan selbst sollte das Werk – insbesondere, wenn in absehbarer Zeit auf die englische Edition auch eine Ausgabe in Dari folgt – als fundamentaler Beitrag zur Hebung des nationalen Selbstbewusstseins über alle ethnischen, religiösen und kulturellen Grenzen hinweg und als politisches Instrument zur Unterstützung der Festigung staatlicher Präsenz und Governance sowie des nation building verstanden werden. Selbst wenn aus europäischer Sicht die hohe Zeit der Nationalstaatlichkeit der Vergangenheit angehört, spielt der Nationalstaatsgedanke gerade in Zentralasien nach wie vor eine bedeutende Rolle, wie ein Blick auf die nördlich anschließenden Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeigt. (National-)Staatliche Konsolidierung ist ein erster Schritt beim politischen Aufbau, ehe multiple Verflechtungen zum weiteren Ausbau der Volkswirtschaft und damit auch zu politischer Stabilität beitragen können. Der Nationalatlas leistet auf diesem Weg durch die Bereitstellung anschaulich aufbereiteter Daten einen hervorragenden Beitrag und unterstützt damit die Identitätsfindung im Land. Zugleich hilft er der innerstaatlichen Planung, regionale Unterschiede und Entwicklungsdefizite, insbesondere im Bereich der materiellen und sozialen Infrastruktur, zu erkennen und allmählich abzubauen. Damit wiederum wird auch der breiten Bevölkerung gedient, selbst wenn sie wohl kaum in den Genuss kommen kann, das Werk zu sehen und zu schätzen. Die Fördermittel, die aus dem Haushalt des Auswärtigen Amtes über den DAAD in dieses Publikationsprojekt flossen, sind höchst sinnvoll angelegt; mindestens genauso zu würdigen ist das außergewöhnliche Engagement der beteiligten Arbeitsgruppen von Geographie und Kartographie in Gießen und Kabul bei der Datenerfassung, -aufbereitung und -visualisierung.