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Kulturgespräch am 9.1.2015 mit Andreas Dittmann

Wie gibt sich eigentlich eine zerrütte, ja, zerstörte Nation so etwas wie ein neues Gesicht, wenn eine große Mehrheit der Menschen kaum mehr überblickt als den eigenen Landstrich, das eigene Stammesterritorium, wenn das Land zerfällt in regionale Interessen. Wie soll dann so etwas wie ein Wiederaufbau als gemeinsames Projekt möglich werden? Das Fallbeispiel ist natürlich Afghanistan und ein Beispiel dafür, welchen Beitrag die Geografie dazu leisten kann, den Menschen das Bewusstsein wiederzugeben für ihren gemeinsamen Staat, für die Existenz einer gemeinsamen Identität.

Dafür haben die Geografen der Universität Gießen einen völlig neuen Nationalatlas für Afghanistan entwickelt. Prof. Andreas Dittmann ist Geograf an der Universität Gießen und Vorsitzender der Deutsch-Afghanischen Universitätsgesellschaft in Bonn.

Herr Dittmann, was kann so ein Werk im Einzelnen bewirken?

Ein Nationalatlas hat immer die ganz wichtige Identitätsstifterfunktion. In diesem Fall, dass viele Afghanen jetzt erkennen: Das ist unser Land, das sind unsere Naturressourcen, das sind unsere kulturellen Schätze, das sind unsere Entwicklungsmöglichkeiten, so stellt sich unsere Geschichte dar. Und ebenso wie für fast alle Länder eine Nationalflagge wichtig ist und eine Nationalhymne, so ist für viele auch ein Nationalatlas wichtig. Das gilt ganz besonders für junge Nationen, wie Afghanistan eine ist, in denen Nation-Building noch ein großes Thema ist.

Wenn man jetzt diesen neuen Nationalatlas mit dem mittlerweile doch recht angestaubten Atlas von 1982 vergleicht, was wird sich damit dem Blick auf das eigene Land ändern?

Nationalatlanten haben ja außer der dokumentarischen Aufgabe auch immer eine besondere politische Aussage. Das Erstellen von Nationalatlanten ist immer ein höchst politischer Akt. Der 1982 erschienene Nationalatlas wurde in Poznań, also in Posen in Polen erstellt und zwar im Auftrag der Sowjetunion, die einige Jahre zuvor Afghanistan besetzt hatte. Das heißt, der letzte Atlas wurde von den damaligen Besatzern Afghanistans in Auftrag gegeben und ist jetzt nach über 30 Jahren natürlich hoffnungslos veraltet. Dass jetzt westliche Akteure, zu denen wir uns ja zählen, damit beauftragt sind, einen neuen Nationalatlas zu erstellen, der vom Umfang und von der Textgestaltung her mit dem alten gar nicht vergleichbar ist, spricht natürlich schon wieder für die These, dass man immer auch Spielball dieses Konkurrenzkampes um Einflusszonen in Zentralasien ist.

Dieser neue Nationalatlas enthält beispielsweise auch die Verzeichnung von Bodenschätzen, sogar die Verbreitung von Schulen und Krankenhäusern. Was bezwecken Sie damit, auch solches Material zur Verfügung zu stellen?

Ein solcher Atlas ist auch immer eine Momentaufnahme, das heißt, wichtig ist nicht nur, was er bereits enthält, sondern auch das, was er noch nicht enthält, also das Aufzeigen von Defiziten, gerade im Bereich von Infrastrukturausbau oder Einrichtungen für die Gesundheits- und Bildungsversorgung. Dabei darf man nicht vergessen, dass es auch eine erhebliche Anzahl guter Nachrichten gibt. Und zu denen gehört nicht nur ein solches Werk wie ein Nationalatlas, sondern auch der insgesamt sehr gut funktionierende Bereich der akademischen Zusammenarbeit, von der der Nationalatlas oder die Produktion des Nationalatlasses ein Ergebnis ist.

Eines der Probleme, an denen sich vermutlich so schnell auch nichts ändern lässt, ist die Verteilung der Ethnien, inklusive aller damit verbundenen Konflikte. Ca. 30 Millionen Menschen leben in Afghanistan, von denen stellen die Paschtunen mit ca. 40 Prozent den größten Bevölkerungsanteil. Auch der ehemalige Präsident Karzai, der Ihr Nationalatlasprojekt unterstützt hat, ist Paschtune. Mussten Sie auf Ihrer Ethnienkarte den Anteil der Paschtunen erhöhen, damit das politisch gefällig ist?

Jetzt haben Sie aber den Finger genau in die Wunde gelegt. Das ist natürlich einer der wichtigsten Punkte. Es gibt in der Tat einige Karten, die höchst sensibel sind, die sozusagen Sprengstoff darstellen und wenn im Kommentartext zur ethnischen Verteilungskarte Prozentzahlen, wie die, die Sie sie eben genannt haben, oder andere drin stünden, dann wäre der Atlas noch explosiver.

Das in den Atlas überhaupt eine ethnische Karte rein durfte, dafür haben wir lange gekämpft, mit den Kollegen vom „Afghan Geodesy and Cartography Head Office“. Und der Text, der dort zu lesen ist, ist jetzt so allgemein gehalten, im Sinne von: Was ist denn eine ethnische Gruppe, was ein Stamm, was ein Volk?, dass kein Streit um Prozentzahlen ausbrechen kann. Und der ernstgemeinte afghanische Vorschlag im Zusammenhang mit der Diskussion um diese Karte war, dass man sie doch besser ganz weglassen sollte.

Also es gibt einige Karten, die, auch wenn man es ihnen nicht ansieht und auch dem Text nicht unbedingt anmerkt, sehr spannend und hochexplosiv sind, darunter auch Karten, von denen man das zunächst gar nicht vermutet hätte. Geologiekarten etwa erschienen mir immer relativ unverdächtig; die Geologie ist was Festes, was Konstantes, das wird kaum verändert. So dachten wir. Aber dann stellte sich heraus, dass die alte Geologengeneration noch mit russischer Nomenklatur gelernt hatte, die aber heute im Westen kaum jemand noch versteht. Dass dann in der Benennung von Stratigraphien oder von tektonischen Linien tatsächlich Welten lagen zwischen dem alten und dem jetzigen Nationalatlas, ist natürlich noch relativ harmlos, aber eben doch immerhin bemerkenswert, da es sich ja um wissenschaftliche Phänomene handelt. Im Vergleich dazu, gab es Karten, die zu sensibel waren, zum Beispiel Karten zu den hauptsächlichen Drogenproduktionsgebieten in Afghanistan oder zu den Schwerpunkten aktueller Kampfhandlungen und kriegerischer Auseinandersetzungen. Die haben es dann nicht in den Atlas geschafft. Das wäre etwas, was man mal nachholen kann. Aber dieser Atlas ist, um das noch mal zu betonen, ein gemeinsames deutsch-afghanisches Werk, und deshalb muss man von wissenschaftlicher Seite auch immer Rücksichten auf die politischen Belange nehmen.

Mit anderen Worten, da stößt so ein Nationalatlas als Aufklärungsinstrument aber durchaus auch an seine politischen Grenzen.

Genau. Ein solcher Nationalatlas enthält auf der einen Seite eine wissenschaftliche Aussage, auf der anderen aber eben auch immer eine wichtige politische Aussage. Und es besteht immer die Gefahr, egal wie er gelingt, dass er von den einen oder den anderen missbraucht werden könnte. Und deshalb ist eine Dokumentation der jetzigen Verhältnisse ganz besonders wichtig. Zum einen, weil sie zeigt, was ist in den letzten zehn Jahren, im Stabilitätspakt-Jahrzehnt, an Aufbau in Afghanistan geleistet werden ist, und zum anderen könnte sie späterer vielleicht einmal essentiell sein hinsichtlich der Frage, wie es danach, in der zweiten Phase, im zweiten Jahrzehnt des akademischen Wiederaufbaus in Afghanistan weiterging.

Wenn wir auf das schauen, was gelungen ist, auf welche Karte sind Sie möglicherweise ganz besonders stolz?

Das sind die Stadtkarten. Das heißt, das sind keine Stadtpläne, sondern Stadtplankarten, die die sechs größten Städte Afghanistans zeigen, am Ende des Atlasses. Das ist eine Menge Detailarbeit und eine Menge Arbeit im Kleinen, da geht es um Kabul, um Herat, um Mazar-e Sharif, um Dschalalabad und Kandahar, und dass es zu all diesen Städten jetzt Karten gibt, die nicht nur wissenschaftlich korrekt und politisch akzeptiert sein müssen, sondern die auch noch schön sein dürfen, darauf sind wir besonders stolz.

Das SWR2 Kulturgespräch mit Prof. Andreas Dittmann, Nahostexperte und Vorsitzender der deutsch-afghanischen Universitäts-gesellschaft Bonn, führte Wilm Hüffer am 9.1.2015

HÜFFER, W. (2015): Neuer Nationalatlas Afghanistan. Aus den Karten die Gellschaft lesen. In: SWR2 Kulturgespräch mit Andreas Dittmann.

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